Gedanken aus dem genialen "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier, Teil 2 (in Bearbeitung)

Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? Wie langweilig und schal es sein müsste zu wissen: Es spielt keine Rolle, was heute passiert, in diesem Monat, diesem Jahr: Es kommen noch unendlich viele Tage, Monate, Jahre. Unendlich viele, buchstäblich. Würde, wenn es so wäre, noch irgend etwas zählen? Wir bräuchten nicht mehr mit der Zeit zu rechnen, könnten nichts verpassen, müssten uns nicht beeilen. Es wäre gleichgültig, ob wir etwas heute tun oder morgen, vollkommen gleichgültig. Millionenfache Versäumnisse würden vor der Ewigkeit zu einem Nichts, und es hätte keinen Sinn, etwas zu bedauern, denn es bliebe immer Zeit, es nachzuholen. Nicht einmal in den Tag hinein leben könnten wir, denn dieses Glück zehrt vom Bewusstsein der verinnenden Zeit, der Müßiggänger ist ein Abenteurer im Angesicht des Todes, ein Kreuzritter wider das Diktat der Eile. Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an Zeitverschwendung?
Ein Gefühl ist nicht mehr dasselbe, wenn es zum zweitenmal kommt. Es verfärbt sich durch das Gewahren seiner Wiederkehr. Wir werden unserer Gefühle müde und überdrüssig, wenn sie zu oft kommen und zu lange dauern. In der unsterblichen Seele müsste ein gigantischer Überdruss anwachsen und eine schreiende Verzweiflung angesichts der Gewissheit, dass es nie enden wird, niemals. Gefühle wollen sich entwickeln, und wir mit ihnen. Sie sind, was sie sind, weil sie abstoßen, was sie einst waren, und weil sie einer Zukunft entgegenströmen, wo sie sich von neuem von sich selbst entfernen werden. Wenn dieser Strom ins Unendliche flösse: Es müssten in uns tausendfach Empfindungen entstehen, die wir uns, gewohnt an eine überschaubare Zeit, überhaupt nicht vorstellen können. So dass wir gar nicht wissen, was uns versprochen wird, wenn wir vom ewigen Leben hören. Wie wäre es, in Ewigkeit wir zu sein, bar des Trostes, dereinst erlöst zu werden von der Nötigung, wir zu sein? Wir wissen es nicht, und es ist ein Segen, dass wir es nie wissen werden. Denn das eine wissen wir doch: Es wäre die Hölle, dieses Paradies der Unsterblichkeit.
Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schöheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit. Warum weiß das der HERR nicht, der allwissende Gott? Warum droht er uns mit einer Endlosigkeit, die unerträgliche Ödnis bedeuten müsste.

Es war, als sei die Zukunft schon geschehen - als sei sie in meinem Erschrecken als bereits bestehende Tatsache enthalten, und nun würde es nur noch darum gehen, dass sie sich zeitlich ausbreitete.

Der Geist, er ist ein charmanter Schauplatz von Selbsttäuschungen, gewoben aus schönen, besänftigenden Worten, die uns eine irrtumsfreie Vertrautheit mit uns selbst vorgaukeln, eine Nähe des Erkennens, die uns davor feit, von uns selbst überrascht zu werden. Wie langweilig wäre es doch, in solch müheloser Selbstgewissheit zu leben.

Doch was ich bin, bin ich zufällig.

... aber es gehe ja um das jetzige, lebendige Bewusstsein, dass das Leben unabgeschlossen bleiben werde, bruchstückhaft und ohne die erhoffte Stimmigkeit. Dieses Wissen, das sei das Schlimme - die Angst vor dem Tod eben.

Das taghelle Bewusstsein der Endlichkeit ...

Das Leben ist nicht das, was wir leben; es ist das, was wir uns vorstellen zu leben.

Enttäuschung gilt als Übel. Ein unbedachtes Vorurteil. Wodurch, wenn nicht durch Enttäuschung, sollten wir entdecken, was wir erwartet und erhofft haben? Und worin, wenn nicht in dieser Entdeckung, sollte Selbsterkenntnis liegen? Wie also sollte einer ohne Enttäuschung Klarheit über sich selbst gewinnen können?

Einer, der wirklich wissen möchte, wer er ist, müsste ein ruheloser, fanatischer Sammler von Enttäuschungen sein, und das Aufsuchen enttäuschender Erfahrungen müsste ihm wie eine Sucht sein, die alles bestimmende Sucht seines Lebens, denn ihm stünde mit großer Klarheit vor Augen, dass sie nicht ein heißes, zerstörerisches Gift ist, die Enttäuschung, sonder ein kühler, beruhigender Balsam, der uns die Augen öffnet über die wahren Konturen unserer selbst.

Gedanken aus dem genialen "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier, Teil 1

Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben.

Wenn ich Zeitung lese, Radio höre oder im Café darauf achte, was die Leute sagen, empfinde ich immer öfter Überdruss, ja Ekel ob der immer gleichen Worte, die geschrieben und gesprochen werden - ob der immer gleichen Wendungen, Floskeln und Metaphern. Und am schlimmsten ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muss, dass auch ich die ewig gleichen Dinge sage. Sie sind so schrecklich verbraucht und verwohnt, diese Worte, abgenutzt von millionenfacher Verwendung. Haben sie überhaupt noch eine Bedeutung? Natürlich, der Austausch der Wörter funktioniert, die Leute handeln danach, sie lachen und weinen, sie gehen nach links oder rechts, der Kellner bringt den Kaffee oder Tee. Doch das ist es nicht, was ich fragen will. Die Frage ist: Sind sie noch Ausdruck von Gedanken? Oder nur wirkungsvolle Lautgebilde, welche die Menschen dahin und dorthin treiben, weil die eingravierten Spuren des Geplappers unablässig aufleuchten?

Ich möchte die Worte neu setzen. Die Sätze, die aus dieser neuen Setzung entstünden, möchten nicht ausgefallen sein und verschroben, nicht exaltiert, manieriert und gewollt. Es müssten archetypische Sätze sein, die das Zentrum der Sprache ausmachten, so dass man das Gefühl hätte, sie entsprängen ohne Umweg und ohne Verunreinigung aus dem transparenten, diamantenen Wesen dieser Sprache.

Unbestechlich und unverrückbar stünden sie da, und darin glichen sie den Worten eines Gottes. Zugleich wären sie ohne Übertreibung und ohne jedes Pathos, genau und von einer Kargheit, dass man kein einziges Wort wegnehmen könnte und kein einziges Komma. Darin wären sie einem Gedicht vergleichbar, geflochten von einem Goldschmied der Worte.

In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art ... Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, dass ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.

So wie ich aussehe und wirke bin ich nie gewesen, keine einzige Minute meines Lebens ... Geht es den Anderen auch so: dass sie sich in ihrem Äußeren nicht wiedererkennen? Dass ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll von plumper Verzerrung vorkommt? Dass sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die anderen von ihnen haben, und der Art, wie sie sich selbst erleben?

Die Ferne zu den Anderen, in die uns dieses Bewusstsein rückt, wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, dass unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegenen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen.

Jeder Moment kann der letzte sein. Ohne die geringste Vorahnung, in vollkommener Unwissenheit, werde ich eine unsichtbare Wand durchschreiten, hinter der nichts ist, nicht einmal Dunkelheit. Mein nächster Schritt, er kann der Schritt durch diese Wand sein. Ist es nicht unlogisch, davor Angst zu haben, wo ich dieses plötzliche Erlöschen doch gar nicht mehr erleben werde und weiß, dass es sich so verhält?

Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab ... und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen, Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften? Ist es nicht in Wahrheit so, dass nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?

Eine Religion, in deren Zentrum eine Hinrichtungsszene steht, finde ich abstoßend. Stell dir vor, es wäre ein Galgen gewesen, eine Guillotine oder ein Garrotte. Stell dir vor, wie unsere religiöse Symbolik dann aussähe.

Kann Gott einen Stein schaffen, den er nicht zu heben vermag? Wenn nein, dann ist er nicht allmächtig; wenn ja, dann ist er es auch nicht, denn nun gibt es den Stein, den er nicht heben kann.

Dort jedoch gibt niemand vor, dass es um mehr geht als Reden, die Leute reden und genießen das Reden, so wie sie es genießen, das Eis zu schlecken, damit sich die Zunge von den Worten erholen kann. Während hier alle ständig tun, als sei es anderes. Als sei es unerhört wichtig, was sie sagten. Doch auch sie müssen schlafen in ihrer Wichtigkeit, und dann bleibt eine Stille übrig, die faulig riecht, weil überall Kadaver der Wichtigtuerei herumliegen und wortlos vor sich hin stinken.

Es sind keine Texte. Was die Leute sagen, sind keine Texte. Sie reden einfach.

Die Geschichten, die die anderen über einen erzählen, und die Geschichten, die man über sich selbst erzählt: welche kommen der Wahrheit näher?

Dann herrschte eine Stille, wie er sie noch nie erlebt hatte: In ihr schwiegen die Jahre.

Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und holte ihn zurück aus dem Paradies seiner kostbaren Unangestrengtheit.

Sie hätten etwas weniger wohlgeformt sein dürfen, diese Worte. Etwas stockender, unbeholfener, tastender. Etwas mehr wie unbehauener Stein. Ein bisschen weniger wie polierter Marmor.

Die Eitelkeit ist eine verkannte Form von Dummheit. Man muss die kosmische Bedeutungslosigkeit unseres gesamten Tuns vergessen, um eitel sein zu können, und das ist eine krasse Form von Dummheit.

Die Beerdigung ist Sache der anderen; der Tote hat damit nichts zu tun.

Sie wollen ... die Zeit anhalten, wie wollen sie daran hindern weiterzufließen, damit es ihr nicht gelingen möge, ihnen den Geliebten zu entfremden, wie das jede Sekunde mit allem tut, was vor ihr geschehen ist.

... ein unregelmäßiges Zucken der Lider, das wie die Zusammenfassung einer lebenslangen Überanstrengung wirkte.

Namen sind die unsichtbaren Schatten, mit denen uns die anderen einkleiden, und wir sie.

... als wir zu spüren begannen, dass das sichtbare Leben nicht das ganze Leben sein kann ...

Deshalb kann man die Bibel nicht einfach weglegen, sondern muss sie wegwerfen, wenn man genug hat von ihren Zumutungen und der Knechtschaft, die sie über uns verhängt. Es spricht aus ihr ein lebensferner, freudloser Gott, der den gewaltigen Umfang eines menschlichen Lebens - den großen Kreis, den es zu beschreiben vermag, wenn man ihm die Freiheit lässt - einengen will auf den einzigen, ausdehnungslosen Punkt des Gehorsams. Gramgebeugt und sündenbeldaden, ausgesdörrt von Unterwerfung und der Würdelosigkeit der Beichte, mit dem Aschenkreuz auf der Stirn sollen wir dem Grab entgegengehen, in der tausenfach widerlegten Hoffnung auf ein besseres Leben an Seiner Seite. Doch wie könnte es besser sein an der Seite von Einem, der uns vorher aller Freuden und Freiheiten beraubt hatte?